Sympathische Antihelden
Michel Esselbrügges Graphic Novel „Langfinger und Wackelzahn“ setzt sich gesellschaftskritisch mit jugendlichen Lebensformen auseinander, ohne dabei zu moralisieren.
Mit Superkräften ausgestattet und bereit für zerstörerische „Angry-Youth“-Ausschreitungen: In seiner Comic-of-Age-Geschichte suchen die Figuren von Michel Esselbrügge nach Zugehörigkeit, konstruieren sich eine eigene Identität, werden aber dadurch weder reifer noch erwachsener.
Der gebürtige Bielefelder, der seine Kindheit und Jugend in Steinhagen verbracht hat, zog 2012 nach Kassel, um dort an der Kunsthochschule Kassel Illustration und Comic zu studieren. Letztes Jahr veröffentlichte er mit „Langfinger und Wackelzahn“ sein erstes Buch, an dem er drei Jahre gearbeitet hat.
Die Quintessenz der Geschichte – es ist nicht so einfach, jugendlich zu sein. Der Autor spricht Themen an, die Teenager bewegen: vom Zugehörigkeitsgefühl, zerrütteten familiären Verhältnissen bis hin zu Liebe, Sexualität und Freundschaft.
Esselbrügge beschreibt den 15-jährigen Langfinger, der Vollwaise und selbsternannter Meisterdieb ist und mit seinem Hund Wackelzahn in einem leer stehenden Fabrikgebäude in der Nähe eines Waldes lebt. Gemeinsam mit dem Fast-Scheidungskind Max und dessen Steinkröte Gunter ziehen sie durch brachliegende Industrieflächen und angrenzende Wälder umher, bewerfen Leute mit Steinen und zerstören das Revier der verfeindeten Bande “Logbuch-Eiche”. Er entwirft Antihelden, um einen Gegenentwurf zum Helden zu schaffen. „Vielleicht erzeugen die Antihelden beim Leser auch eine gewisse Sympathie, weil sie Schwächen haben und dies offen zeigen“, so der Autor. Auch hinterfragt er gesellschaftliche Normen und Erwartungen, und zwar „ohne moralisierende Vorhaltungen“, betont er. Dies macht er ganz raffiniert, indem er fantastische Elemente einsetzt und mit der Grenze zwischen Realität und Fiktion spielt.
Das Buch wirft Parallelen zu seiner eigenen Jugend auf. Beispielsweise habe ihn die Landschaft um Steinhagen inspiriert. Dennoch distanziert sich der 28-Jährige persönlich vom Inhalt: „Es ist kein autobiografischer Comic. Ich würde nie so handeln, wie einige Figuren es tun.“ Auffällig ist zudem, dass man in dem Comic die Köpfe der Erwachsenen nie zu sehen bekommt. Damit habe er bewusst gespielt: „In der Welt, die ich konstruiert habe, stehen die Jugendlichen im Fokus“, erklärt Esselbrügge. Dennoch sei seine Graphic Novel auch für Erwachsene geeignet: „Ich thematisiere auch das Aushandeln von Sexualität. Es gibt verschiedene Formen der sexuellen Orientierung, die ich mit meinem Buch ansprechen wollte.“
Was ihm als Comiczeichner wichtig ist, erklärt Esselbrügge so: „Bei vielen Comics werden Sprechblasen als Gestaltungselement nicht mitgedacht. Dann sind sie nur Mittel zum Zweck, verdecken beispielsweise den Hintergrund. Sprechblasen und Soundwords sind mir als Gestaltungselemente genauso wichtig wie die Figuren oder der Hintergrund.“
Außerdem denke er beim Illustrieren nicht bewusst nach und zeichne einfach los. Im Laufe eines Arbeitsprozesses entwickle sich die Geschichte und werde zum Ganzen, ohne das ein Ende im Vorfeld bekannt sei. Auch unterscheidet er klar zwischen den beiden Erzählformen Comic und Belletristik: „Wenn man Comics mit Romanen vergleicht, wird dem Medium seine eigenständige Qualität und Wirkung abgesprochen.
Konkrete Vorbilder in der Comicszene habe er nicht, auch wenn er sich bei seinem aktuellen Werk von literarischen Figuren wie Huckleberry Finn oder die Rote Zora inspirieren ließ. „Man sollte seinen eigenen Weg finden“, erklärt Esselbrügge. Und welche Eigenschaften sollte ein Illustrator mitbringen? „Man muss nicht gut zeichnen können, sondern seinen eigenen Weg zu zeichnen finden. Die Illustration sollte gut lesbar sein und eine Systematik haben.“
Esselbrügge ist Mitgründer des Institute for Contemporary Cartooning und Teil des Zeichner Kollektivs FAN ART. Zuvor hat er Kurzgeschichten in Orang, Kuti Kuti und kuš! veröffentlicht. „Langfinger und Wackelzahn“ stellte er im letzten Jahr auf der Frankfurter Buchmesse und auf dem Comic-Festival in Hamburg vor. Zurzeit arbeitet Esselbrügge an einem digitalen Comic, welcher gleichzeitig auch seine Abschlussarbeit wird. Diesmal geht es um prekäre Arbeitsverhältnisse im gestalterischen Bereich, welches im September erscheinen soll.
Homepage des Künstlers:
michelesselbruegge.de
(Text: Cigdem Özdemir)
Quelle: Publik. Magazin der Uni Kassel; Nummer 3, 42. Jahrgang, S. 24 f.