Artist-in-Residence: Von Kassel nach Dhaka
Für die Kunsthochschulabsolventin Alexandra Münzner ging es nach ihrem Studium nach Dhaka, die Hauptstadt Bangladeschs. Mit rund 10,3 Millionen Einwohner:innen (Agglomeration) ist sie die größte Stadt im Land und eine der größten Städte Asiens. Münzner lebte dort von Januar bis Mai 2023 für ein Artist-in-Residence-Programm bei Britto Arts Trust.
Das Künstler:innenkollektiv Britto Arts Trust lernte Münzner im Rahmen der documenta 15 (2022) in Kassel kennen. Sie war in der Abteilung Produktion und Technik in der documenta Halle angestellt und arbeitete eng mit dem Kollektiv zusammen: „Ich hatte mich besonders viel für das künstlerische Kochprojekt PAKGHOR – the social kitchen – von Britto Arts Trust engagiert“, sagt Münzner. Sie ergänzt: „Mahbubur Rahman und Tayeba Begum Lipi, die Mitbegründer von Britto, hatte ich zu meiner Performance ‚Unsafe Desire‘ eingeladen“. Daraufhin bot das Kollektiv ihr ein Artist-in-Residence-Research-Programm in Dhaka an, um über ihr Projekt ‚Unsafe Desire‘ zu forschen. Britto widmet sich in seiner künstlerischen Praxis dem sozio-politischen Umbruch in Bangladesch und unterstützt interdisziplinäre Praktiker:innen, Gruppen und Netzwerke. Er bietet professionellen Kunstschaffenden ein lokales und internationales Forum für Treffen, Diskussionen und Experimente.
In ihrem Langzeit-Forschungsprojekt ‚Unsafe Desire‘ beschäftigt sich Münzner mit den Herausforderungen für Frauen, Transfrauen und Personen mit weiblicher Identität in einer sexistisch geprägten Gesellschaft: „Ich untersuche die Auswirkungen von Geschlechterstereotypen und sexistischen Narrativen auf verschiedene Lebensbereiche, insbesondere in Bezug auf Gewalt, die sich sowohl auf emotionaler als auch auf physischer und sexueller Ebene zeigt“, erklärt die Künstlerin. Während ihrer Residency entwickelte die Künstlerin durch Interviews, Recherche und Beobachtungen ein tiefgründiges Verständnis dafür, was ‚Unsafe Desire‘ in der Lebensrealität von Frauen in Bangladesch bedeutet. „Innerhalb des Landes bin ich viel gereist und habe selbständig geforscht. In Mymensingh, Gaibandha, Cox´s Bazar, Moheshkhali interviewte ich Aktivist:innen, Lehrende und Künstler:innen. Dazu habe ich während meiner Reise intensiv gezeichnet und mein Ausstellungskonzept entwickelt, welches schließlich in Zusammenarbeit mit Britto Arts Trust in Form einer Projektausstellung umgesetzt wurde“, so Münzner. Die Artist-in-Residency Ausstellung wurde von Md. Khairul Alam (Shada) kuratiert.
In ihrer Einzelausstellung vom 5. bis 7. Mai 2023 zeigte Münzner auf einer 2-Kanal-Videoinstallation Interviews, die sie u. a. mit Khushi Kabir (Feministin und Aktivistin), Sumaiya Iqbal (Dozentin für Kriminologie an der University of Dhaka) und Hochemin Islam (Transgender-Aktivistin) während ihres Aufenthalts geführt hatte. Begleitet wurde die Ausstellung u. a. von einer Wandcollage, worauf Münzners Rechercheergebnisse und Zitate aus ‚Sultana´s Dream‘ von Begum Rokeya aus dem Jahr 1905 und gesammelte Skizzen abgebildet waren. In der Ausstellung gibt die Künstlerin auch einen Einblick in ihre persönlichen Eindrücke: „Die Linolschnitte stehen für meine Gasterfahrungen auf einer Rakhain-Hochzeit in Moheskhali“, erläutert die Absolventin.
2022 schloss Münzner ihr Gymnasiallehramtsstudium in den Fächern Kunst und Deutsch ab. Im Anschluss begann sie, „Film und bewegtes Bild“ an der Kunsthochschule Kassel zu studieren. In Deutschland plant sie einen „Residency Recap: Screening & Discussion“-Abend über ihre Zeit in Bangladesch. Außerdem freut sich die angehende Filmemacherin auf ihr neues Projekt: „Für meinen Abschlussfilm reise ich zurück nach Bangladesch. Zusammen mit Mitgliedern von Britto Arts Trust möchte ich eine Geschichte verfilmen, die von wahren Ereignissen inspiriert ist“.
Rückblickend ist die Künstlerin dankbar: „Britto Arts Trust hat mir die Residency ermöglicht und mich immer unterstützt. Das Kollektiv behandelte mich wie ein Familienmitglied, vor allem Mahbubur Rahman und Tayeba Begum Lipi waren großartige Mentoren“, schwärmt Münzner. Sie ermutigt ihre Kommiliton:innen, an einem Artist-in-Residence-Programm teilzunehmen: „Es ist eine einzigartige Gelegenheit, den eigenen Horizont zu erweitern und das künstlerische Verständnis auf eine tiefgreifende Weise zu bereichern“, betont Münzner.
(Text: Çiğdem Özdemir)