Hegemoniale Männlichkeit in RUINEN

Julian Angermann absolviert sein Bildende-Kunst-Studium an der Kunsthochschule Kassel und hinterlässt in der Hochschulbibliothek mit RUINEN ein Trauerspiel. „Das (…) Buch befasst sich mit einem Zeitraum meines Lebens / der unschätzbar reich an erfahrungen [sic] war und nun in Trümmern vor mir liegt“, so der Autor. Angermann begreift seine Arbeit als Intervention: „Meine Publikation ist eine künstlerische Intervention. Sie ist in der Bibliothek der Kunsthochschule Kassel ausleihbar und in dem Online-Katalogportal KARLA auffindbar. Das war mir wichtig, dass mein Trauerspiel auf diese Art Interessierten zugänglich gemacht wird“, betont Angermann.

Als prägend und lehrreich bezeichnet Angermann seine Studienzeit, in der er sich viel mit toxischer Männlichkeit auseinandersetzte. Bewusst sei ihm die hierarchische Geschlechterdifferenz innerhalb der Kunsthochschule geworden und zwar in: „Jener Gesellschaft einer Kunsthochschule / die sich wiedererwarten [sic] als ein Ort / genauso wenig Fortschrittlich [sic] wie jeder andere entblößte“, verharrt der Autor in den althergebrachten patriarchalischen Machtstrukturen, wenn er schreibt: „Leser_innen seid gewahr das [sic] Zeiten sich zwar ändern mögen / doch das was zwischen Menschen ist / unabänderbar gleich doch ist.“

Kann dem Autor unterstellt werden, dass seine Beobachtung gleichzeitig die Schwäche seines Werkes begründet? RUINEN ist zwar „Julia“ gewidmet, der einzigen Frau, die im Trauerspiel vorkommt, die Frauen im Trauerspiel bleiben selbst jedoch stumm: „Bitte Großgünstiege_r [sic] Leser_in / verzeihe mir diese unzulänglichkeit [sic]. Der inhalt [sic] hier ist der Erkenntnis des Archaisch Männlichem Gewidmet [sic] (...).“ Hegemoniale Männlichkeit im Werk wird entschuldigt und der Versuch unternommen, Distanz zu schaffen, „(…) nicht Teil dieser Überkommenen [sic] Welt zu sein und sein zu wollen.“ So positioniert sich der Autor klar gegenüber den hierarchisch strukturierten Geschlechterverhältnissen.

Das Trauerspiel, in vier Akten erzählt, startet in der Silvesternacht 2017/2018 und endet zwei Jahre später in der Isolation des Lockdowns. RUINEN orientiert sich am barocken Trauerspiel: „Es mag auch an diesem Bezugspunkt liegen / dass es mitunter überbordend / ausstraffiert / ausschweifend gar Kitschig [sic] wird“, erklärt der Autor. Selbst die Gestaltung, das Layout und die Alte Schwabacher Schrift erinnern an die Trauerspiel-Originaldrucke aus dem 17. Jahrhundert. „Für meine Recherche habe ich mir zahlreiche Originaldrucke in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen angeschaut. Das äußere Erscheinungsbild wie die klassische Bindung war mir sehr wichtig. Auch habe ich die textliche und bildliche Ebene von vornherein immer mitgedacht“, betont der Absolvent.  

Angermann entschied sich für die aufwendige Technik der Kaltnadelradierung und orientierte sich an der Druckästhetik der Barockzeit. Mit einem scharfen, spitzen Gegenstand werden die Zeichnungen direkt in eine Kupferplatte geritzt. „Dieses Druckverfahren ist sehr kostspielig und RUINEN wurden in einer Auflage von nur 15 Exemplaren gedruckt“, erklärt der Künstler. 

Zum stilistischen Konzept des Autors zählen die ungleiche Schrift und die ungereimten Versenden. Auch verzichtet er auf die Regeln der deutschen Orthografie und bekennt sich indirekt zu seiner Legasthenie: „In dem Trauerspiel sind die Wörter großgeschrieben, die ich hervorheben wollte. Interpunktionen wie Kommas ersetze ich durch Schrägstriche“, erklärt Angermann.

RUINEN kann in der Bibliothek der Kunsthochschule Kassel ausgeliehen werden. Die Ausleihenden können in einem extra Karteikärtchen im Buchinneren ihre Namen vermerken, um dem Ausleihen einen Vintage-Charme zu verleihen.

(Text: Çiğdem Özdemir)